Der Fawang Tempel

von Leo Poggensee

Im Sommer 2018 habe ich mich als frischgebackener Abiturient entschlossen eine große Reise anzutreten, bevor ich mich ins Studentenleben stürze. Da mich der Ursprung des Kung-Fus schon lange fasziniert hat und auch unser Formtraining es mir sehr angetan hat, entschloss ich mich nach China zu reisen. Nach einigen Monaten Planung, einem Haufen Bücher über Chinas Kultur und einigen Chinesisch-Stunden war es dann so weit. Nach der Verabschiedung am Flughafen fing ich an zu realisiere was ich mir da vorgenommen hatte. Zwei Monate ganz alleine und mit sehr eingeschränkten Sprachkenntnissen in einem der größten Länder der Welt. Klingt doch nach einer guten Voraussetzung für ein großes Abenteuer.

Am Anfang hatte ich erst einmal eine 27-stündige Reise über Paris und Shanghai ins chinesische Inland vor mir. Luoyang hieß die Stadt, in der ich meine Flughafen-Odyssee beenden sollte. Die chinesische Kleinstadt war ab 25 n. Chr. einmal Hauptstadt der Han-Dynastie war und hat heute 6,55 Millionen Einwohner. Meine ersten Eindrücke dort entsprachen der Vorstellung, die ich immer von Indien gehabt hatte. Denn es war laut, voll, überall fuhren überladene, alte Elektroskooter oder stinkende Mopeds. Dazu herrschte eine schwüle Hitze. Na toll, in dieser Sauna sollte ich die nächsten Monate täglich viele Stunden trainieren.

Als der Taxifahrer mich an der Adresse absetzte die ich ihm auf einem Zettel zeigte, musste ich erschrocken feststellen, dass das von mir gebuchte Hotel abgerissen war. Das dies in China nicht unüblich ist, da Städte nahezu monatlich ihr Gesicht ändern, war in diesem Moment kein Trost. Nach einer Nacht in einer Ersatzunterkunft brachte mich ein Fahrer in den Tempel, in dem ich trainieren würde. Wie ich später erfuhr ist der 15 Km vom Shaolin Tempel entfernte Fawang Tempel der 2. älteste buddhistische Tempel in ganz China. Er wurde schon im Jahr 71 n. Chr. erbaut. Damit ist er rund ein halbes Jahrtauschend älter als der weltbekannte Shaolin Tempel. Mein Plan war es, hier am Fuße des Yuzhu Gipfels des Song Shan Berges einen Monat zu leben, zu trainieren und so viel wie möglich zu lernen.

Die Tempelanlage war von beeindruckender Größe. Die Erfahrung zeigte, dass Tempel in China meistens in den Bergen liegen und daher in übereinanderliegende Ebenen aufgeteilt sind. Bei „uns“ waren die unteren zwei Ebenen dem praktizieren des Kung-Fus gewidmet. Alles darüber liegende war reiner Klosterbereich.

Nach meiner Ankunft wurde mir schnell klar, dass ohne Eigeninitiative rein gar nichts passieren würde. Ich wurde gebeten, Platz zu nehmen. Nach einer ganzen Weile fing ich an Fragen zu stellen, worauf ich mit den wichtigsten Utensilien versorgt wurde.

Ich erhielt Essbesteck (Stäbchen, Becher und Napf), Waschsachen (Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Handtuch und Waschschüssel) sowie Kleidung (zwei Roben, zwei Paar Trainingsschuhe und Badelatschen). Nachdem ich alles beschriftet hatte, passierte erst mal wieder nichts.

Irgendwann konnte ich mit Händen und Füßen klar machen, dass ich mein Gepäck gerne in meine Unterkunft bringen würde. Daraufhin wurde mir mein zukünftiger Schlafplatz präsentiert. Es handelte sich um einen kleinen dunklen Raum mit großem Stockbett für sechs Personen. Als Matratze fungierte eine dünne Wolldecke auf groben Holzbohlen. Hier traf ich meine französischen und griechischen Zimmergenossen und weitere Besucher des Tempels.  Diese stammten aus aller Welt und machten mich mit dem wichtigsten vertraut.

Ich bemerkte schnell, dass die chinesische Kung-Fu Schülerschaft ausschließlich aus Kindern zwischen 6 und 18 Jahren bestand. Ungefähr 80 glatzköpfige, in einheitlich orangene Roben gekleidete Kinder, von denen nur Einzelne sehr beschränkte Englischkenntnisse besaßen. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass heutzutage die Kampfkunstausbildung unabhängig von der buddhistischen Lehre vermittelt wird. Das bedeutete, dass weder buddhistische Rituale, Gebete noch Meditation Teil des Unterrichts waren. Auch sonst wartete die eine oder andere Entzauberung meiner Vorstellung auf mich.

So sind bspw. die heutigen Shaolin Kampfmönche keine buddhistischen Mönche mehr, die sich an die buddhistischen Regeln halten müssen. Sie dürfen eigenen Besitz anhäufen, eine Familie gründen, Fleisch essen und Alkohol trinken.

Seit der ersten Minute in China war mir klar, dass jedes chinesische Wort, das ich im Vorfeld gelernt hatte, Gold wert war. Scheinbar bin ich der einzige ausländische Schüler gewesen der zumindest den Versuch gewagt hat, sich in die fremde Sprache einzufinden. Deshalb hatte ich immer und überall viel zu übersetzen. Alle freuten sich unglaublich über jedes chinesische Wort, das ich sprach, und insbesondere die vielen Kinder waren begeisterte und geduldige Lehrer. So wurde beispielsweise meine Bitte nach einem Nachschlag bei der Essensvergabe, durch die Freude über mein Chinesisch, stets mit einer großen Portion belohnt.

Im Zuge meiner Vorbereitung zuhause hatte ich einen Chinesischlehrer gefragt, wie man meinen Namen in den fremden Schriftzeichen schreibt. Als ich aufgefordert wurde meine Roben zu beschriften, war der große Moment gekommen. Schnell kannte jeder im Tempel meinen Namen. Während meines gesamten weiteren Aufenthalts rief ständig und teilweise völlig grundlos jeder meinen Namen, sobald er oder sie mich sah. „Lee O!“ Es entstanden lustige Momente wie: „Leo und die anderen Ausländer kommt mit mir“, da ihnen die anderen fremdartigen Namen nichts sagten. Viele Leute dort waren sehr interessiert an Europa und unserer Kultur. Doch war die Sprachbarriere oft eine starke Hemmschwelle. Sobald sie bemerkten, dass bruchstückartige Chinesisch-Kenntnisse zum Vorschein kamen, war jede Zurückhaltung wie vergessen. Es ist nicht immer einfach gewesen, damit umzugehen.

Das Training

Am ersten Tag hatte ich mich noch gewundert, warum alle schon um 21:00 ins Bett gingen. Am nächsten Morgen wusste ich warum. Geweckt wurde man mit einer Trillerpfeife. Der erste Morgenappell fand um 5:30 statt. Erst wurde durchgezählt und anschließend gelaufen. Es war nicht so leicht, den Meistern auf ihre Frage zu antworten, ob ich schon Erfahrung in den Kampfkünsten hatte. Ich versuchte ihnen zu verdeutlichen, dass ich bereits einige Jahre einen anderen Kung-Fu Stil lerne als Shaolin Kung-Fu. Sie verstanden wohl gerade. „Sechs Jahre“ und „Kung-Fu“. Daraufhin baten sie mich, ihnen die Namen der Formen zu nennen die ich kannte. Da sie diese nicht kannten, waren sie schnell der Meinung, ich könne doch kein Kung-Fu. Diese Annahme hielt sich nicht sehr lange. Dann gestanden sie mir zu das ich schon mal irgendetwas wie Shaolin Kung-Fu gemacht haben müsste.

Es war an den ersten Tagen allerdings nicht leicht, mich dem neuen und zum Teil sehr anderen Stil anzupassen. Die Bewegungsmuster aus unserem Wun Hop Kuen Do waren so stark verankert, dass sie immer wieder die neuen Techniken dominierten.

Um an dieser Stelle eine oft gestellte Frage zu beantworten: Ja es war sehr anstrengend. Doch irgendwie ging es doch immer weiter. Die erste Woche war die schlimmste. Das habe ich von denen gesagt bekommen die schon länger da waren als ich und konnte es bei denen sehen die nach mir anreisten. Das es irgendwann wieder besser werden würde habe ich am Anfang nicht geglaubt, denn die zuhause so hart erkämpfte Dehnung wurde von Tag zu Tag schlechter. Obwohl vor jeder Trainingseinheit ausgiebig gedehnt wurde und ich das morgens und abends zusätzlich tat, kam ich nicht gegen den Muskelkater an. Dieser fand in einer fast vergessenen Intensität statt und hielt die gesamte erste Woche ununterbrochen an. Die kleinsten Bewegungen waren sehr unangenehm, so hatte man selbst Schmerzen beim Liegen, Lachen und Fuß anheben. Ganz zu schweigen von dem Versuch in die Hocke zu gehen.

Alleine deshalb freute man sich schon aufs nächste Training weil man wusste, dass es nach den ersten Zehn Minuten besser werden würde und dann wenigstens währenddessen nicht so sehr schmerzte.

In dieser Zeit lernte ich den Tigerbalsam kennen und schätzen. Ich erhielt den Tipp alles Schmerzende vor dem Schlafengehen einzureiben. Dementsprechend hielt eine Dose meistens nur 1-2 Tage. Es blieb gerade in der ersten Woche neben dem Training und der Vor- und Nachbereitung nicht viel Zeit für andere Dinge. Vieles brauchte eine Menge Zeit und war mit einer großen Sprachbarriere verbunden. Später wurde dies routinierter. Man hatte Zeit, um den Tempel zu erkunden und mit den Kindern zu spielen. Ich merkte schnell, dass das eigentliche Zentrum des sozialen Lebens die Pingpong-Platte im Innenhof war. Mein Gott, haben diese kleinen Kinder mich abgezogen.

Nach meinen vielen unterschiedlichen Berichten und Rezensionen von Kung-Fu Attraktionen in der Shaolin Region war ich sehr glücklich, einen so unkommerziellen und authentischen Tempel gefunden zu haben. Denn mein dortiges Leben war doch erstaunlich nah an dem der dauerhaften chinesischen Schüler.

Movie Night

Mittwoch Abends wurden die Akrobatikmatten ausgelegt und eine Leinwand aufgebaut. Dann gab es für die Kids einen Filmabend und sie durften länger aufbleiben. Ich wollte mal schauen was es so gab. Leider war es ein Film auf chinesisch mit chinesischen Untertiteln. Auf einmal merkte ich wie mich eines der Kinder bemitleidend anschaute. Es stellte fest, dass ich ja nichts verstand. Kurze zeit später kam es mit einem uralten I-Pod wieder und hielt mir einen Stöpsel der Kopfhörer hin. Es hatte Kung-Fu Panda 1 auf Englisch mit chinesischen Untertiteln heruntergeladen. Das werde ich nie vergessen.

Im ersten Hof neben dem Eingangstor gab es einen kleinen Laden, in dem man das Wichtigste kaufen konnte und der ,zur Freude der Kinder, eine gut bestückte Eistruhe besaß. Da tagsüber die Temperaturen über 30C’ lagen musste man sehr viel trinken und hat dementsprechend geschwitzt. Leider mussten alle Kleidungsstücke von Hand gewaschen werden.

Das Training war sehr formlastig und beschränkte die Konditionsübungen leider, bis auf vereinzelte Liegestütze, auf die Beine.

Bei Regen wurde leider nicht trainiert. Was mir, wie wahrscheinlich jedem anderen Norddeutschen, sehr befremdlich war. Im Gespräch mit anderen Europäern, die zum Teil seit Jahren sämtliche Kung-Fu Schulen im Umkreis besucht hatten, wurde der Fawang Tempel und sein Training stets in höchsten Tönen gelobt. Regelmäßig wurde die Unterrichtsqualität über der des Shaolin Tempels eingestuft. Das kann ich durch meine einseitige Erfahrung allerdings nicht beurteilen.

Was mich wirklich stark beeindruckt hat, waren die akrobatischen Übungen, die bereits von den Kleinsten ausgeführt wurden. In einer atemberaubenden Körperbeherrschung wurden Saltos, Flickflacks und Schrauben auf dem Steinboden ausgeführt. Nachdem ich verzweifelt in einer Pause versuchte eine einfache Akrobatikübung zu meistern, halfen die Kinder mir mit Ratschlägen, so gut sie konnten. Um ihnen für ihre Mühe etwas zurückgeben zu können, zeigte ich ihnen einige unserer Chin Na Techniken. Obwohl die den chinesischen Begriff kannten waren ihnen die Techniken oder Ähnliches völlig fremd. Sie waren sehr begeistert und baten mich immer mehr zu zeigen.

Am Wochenende fand das Training nur eingeschränkt statt. So hatten am Samstag nur vormittags Training und am Sonntag frei. Diese Zeit nutzen die chinesischen Kinder um am Handy zu spielen, mit der Familie zu telefonieren oder Karten zu spielen. Es kam zu der Situation in der ich zwei Jungen Rommé beibrachte, die sich sehr über ein neues Spiel freuten. Sie waren auf Anhieb unglaublich gut. Entweder die hatten sehr viel Glück oder konnten sehr praktisch mischen.

Wir Ausländer sind an den freien Tagen meist in die benachbarte Kleinstadt Dengfeng (630.000 Einwohner) gefahren, die 3km südöstlich des Tempels lag. Dort waren wir dann ausgiebig essen und haben Mitbringsel wie Tee eingekauft. Während einer Verkostung durfte ich feststellen, das Teekochen in China eine Wissenschaft ist. In der Kleinstadt ist Alles auf den Kampfkunst Tourismus ausgelegt. In ihr reiht sich eine Kung-Fu Schule an die nächste. Es gibt bspw. eine ganze Straße nur mit Geschäften, die alles bieten was das Kung-Fu Hert begehrt. So findet man dort z.B. Trainingssäbel für umgerechnet 3 Euro (Schade das ich begrenztes Gepäck hatte).

Wir hatten großes Glück. Normalerweise sollte man in China nirgendwo Leitungswasser trinken, da über 80% aller Flüsse und Seen in China verseucht sind. Doch da der Fawang-Tempel direkt an dem Berghang des Song Shan liegt, bekamen wir frisches Quellwasser.

Das Essen war oft knapp rationiert und insbesondere für jemanden der kein Fleisch essen möchte sehr eiweißarm.

An einem freien Tag entschloss ich den Yuzhu Gipfels des Song Shan (Shan ist das chinesische Wort für Berg) zu besteigen. Ich konnte keines der chinesischen Kinder dazu animieren während ihrer Freizeit mit zu kommen. Ebenso wie der Tempel, zählt der 1500 Meter hohe Gipfel zu einem Naturreservat, denn er ist einer von fünf heiligen Bergen Chinas.

Zum Ende meines Aufenthalts habe ich angefangen Dinge als störend wahrzunehmen, die mich am Anfang nicht störten. So stand der Tempel und somit unsere Unterkunft Besuchern stets offen und das hatte insbesondere zur Folge, dass es immer sehr laut war. An gut besuchten Tagen hatten wir beispielsweise Ascheregen von den vielen Räucherstäbchen die angezündet wurden.

Trotzdem war der Abschied letzten Endes schwerer als erwartet. In dem Monat dort habe ich viele ausländische und sogar chinesische Schüler kommen und gehen sehen. Der Tag meiner Abreise aber war sehr plötzlich eingetroffen. Ich hatte gerade begonnen ein Teil der Gemeinschaft zu werden, da sich die Menschen dort an mich gewöhnt hatten. Ich hatte viele herzliche und sehr hilfsbereite kleine Freunde gefunden und dann hieß es Abschied nehmen.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Monat im Tempel eines der spannendsten Erlebnisse war die ich je erleben durfte. Neben den gelernten Techniken und Trainingsmethoden nehme ich eine große Portion an Erfahrungen und Selbstbewusstsein mit. Die eigenständige, und am Ende erfolgreiche, Planung haben mir gezeigt, was ich alles alleine schaffen kann. Denn selbst Chinesisch zu lernen ist nicht unmöglich.

Ich kann allen nur wärmstens empfehlen eine solche Reise anzutreten. Insbesondere in der Zeit nach dem Schulabschluss, ist es eine schöne Art in einen neuen Lebensabschnitt zu starten. Alleine zu reisen hat sich nach einer anfänglichen Überwindung sehr ausgezahlt, da man Entscheidungen nur für sich und daher in einer anderen Spontanität treffen kann. Dazu kommt das man mehr Menschen kennen lernt.

Explizit den Fawang Tempel zu besuchen empfehle ich allen die gerne die Shaolin-Region bereisen möchten, denn dann sollte man den Geist dieser ziemlich authentischen und besonderen Stätte in sich aufnehmen.

Es ist nur fair zu erwähnen, dass ich trotzdem nicht nur Schönes dort erleben durfte. Wer sich für dieses Reiseziel entscheidet muss sich auch auf Herausforderungen und potentielle Unannehmlichkeiten einstellen. Während meiner Zeit dort ist es immer mal wieder zu Kommunikationsproblemen und unangekündigten Trainingsausfällen gekommen. Am Ende überwiegen jedoch die schönen Erinnerungen.

Ich selbst würde wenn es die Zukunft möglich macht gerne nochmal nach China fahren. Tendenziell würde allerdings lieber noch mir unbekannte Orte sehen wollen.

Schön war zu sehen, dass auch dort alle Fähigkeiten alleine durch harte Arbeit und Fleiß erworben werden. Mit dem einzigen Unterschied, dass sich dort deutlich mehr Zeit genommen werden kann. Wir versuchen meist das Kung-Fu Training um unteren Alltag herum zu stricken. Dort ist es anders herum.

Nun da ich wieder hier bin weiß ich einige Dinge anders zu schätzen. So bin ich froh, dass der Stil den wir lernen auch neben dem traditionellen Formtraining sehr vielseitig ist. Auch auf Deutsch unterrichtet zu werden ist jetzt nicht mehr selbstverständlich für mich.

Nicht zuletzt habe ich Euch, das heißt meine Meister, Freunde und Trainingspartner vermisst und erfahren was ich an Euch habe. Auch in der Hinsicht, als das ich euch wieder um mich habe, bin ich nach Hause gekommen.

alle Bilder (c) Leo Poggensee 2018

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